Technologiekritik ist Herrschafts- und Zivilisationskritik – kein Primitivismus!
Wir fällen nicht das lächerliche Urteil, dass die Technologie „schlecht“ ist. Aus welcher – ohnehin historisch bedingten – Ethik heraus denn auch? Wir sagen, sie ist Gewalt und sozialer Krieg.
Unsere Kritik macht sich fest an der technologischen Aneignung von Lebensprozessen. Unsere Positionierung gegenüber spezifischen technologischen Innovationen orientiert sich an einem anzustrebenden Abbau von Macht, Ungleichheit und Fremdbestimmung. Unser sozialrevolutionärer Autonomie- und Freiheitsbegriff geht hier weit über die zugestandene „Freiheit“ der „User*innen“ hinaus, die als Konsument*innen und Datenlieferant*innen zwischen verschiedenen vordefinierten Produkten wählen dürfen.
Wir verteidigen nicht pauschal „die Arbeit“ gegen jede Form von Roboterisierung. Menschliche Arbeit versus Nicht-mehr-Arbeit sind wenig aussagekräftige, statische Kenngrößen einer zudem makroskopischen Betrachtung. Ohne eine mikroskopische Sicht auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen beschreiben sie weder die Dynamik der gesellschaftlich-technologischen Umwälzung noch geben sie Einblick in ihren Disziplinierungs- und (Selbst-) Unterwerfungscharakter. Wenn wir beispielsweise mit den streikenden Mitarbeiter*innen von Amazon zusammen stehen, unterstützen wir ihren Kampf gegen Entwürdigung und Entrechtung sowie gegen die (in diesem Fall algorithmische) Enteignung und Entwertung ihrer Arbeit. Wir tun das in einem solidarischen Verhältnis, aber auch in dem Wissen, dass uns allen die gleiche Entwürdigung in einer technokratischen Zukunftsvision von Amazon bevorstehen könnte – ermöglicht durch eine permanente Bewertung und Steuerbarkeit sämtlicher Lebensbereiche, in die Amazon und seine zukünftigen Nachfolger sukzessive vordringen.
Umgekehrt halten wir die Position, Technologie als „segensreichen Fortschritt“ zu glorifizieren, den wir lediglich aus den Klauen des Kapitalismus befreien müssen, für naiv. Weder Lenins noch Trotzkis (damalige) Zukunftsvisionen einer tayloristischen Fließbandgesellschaft nähren die Hoffnung auf eine progressive Verhaltenssteuerung. Und wir sehen ebenfalls im sozialistischen Vorläufer der Industrie 4.0, dem chilenischen Cybersyn-Projekt (Proyecto Synco) Anfang der Siebziger Jahre unter Salvador Allende, keine Referenz für eine heilsversprechende Kybernetik. Denn auch dort hat sich der Vermessungseifer längst nicht mit einer automatisierten Selbstregulierung der Produktion in Chile begnügt, sondern nach Methoden einer kleinteiligen Verhaltensökonomie seiner Inhabitant*innen gesucht. Eine Perspektive, die wir heute sowohl in dem „sozialen Punktesystem“ Chinas als auch in Googles Vorstellungen vom „Buch des Lebens“ (selfish ledger) wiederfinden. Diese Programme sind ihrem Anspruch nach totalitär: Der Kybernetisierung des Sozialen wohnt die Vorstellung sich selbst regulierender Individuen inne, die durch ein von außen vorgegebenes Selbstoptimierungsprinzip maximal fremdbestimmt agieren.
Daher reicht eine Vergesellschaftung der digitalen Plattformen, ja sogar eine Vergesellschaftung der digitalen Infrastruktur nicht aus. Wir müssen die soziale Kybernetik – also die feinstgliedrige Zerlegung unseres Lebens in Mess- und Steuerkreise – als solches zurückweisen. Die Technologie lediglich vom Kapitalismus befreien zu wollen – als vermeintlich „äußerem Verhältnis“ -, ist leider eine wenig hilfreiche, unterkomplexe Vereinfachung. Das brachte bereits Max Weber zum Ausdruck, als er schrieb:
»Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft. Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst ›nachträglich‹ und von außen der Technik oktroyiert – sie gehen schon in die Konstruktion des technischen Apparats selbst ein. Die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliches Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Interessen mit den Menschen und mit den Dingen zu machen gedenken.«1
Digital Divide
Der „Confirmation Bias“, also die Neigung, Dinge so zu interpretieren, dass sie die eigene Überzeugung bzw. Vermutung untermauern, ist ein psychologisches Phänomen, das weit vor der Digitalisierung entdeckt wurde. Die per Social Media gelenkte Aufmerksamkeits-Ökonomie verstärkt diesen Effekt jedoch nachweisbar. Durch sie zerfällt aktuell nicht nur eine „gemeinsame“ Sicht auf „die Dinge“, es zerfällt sogar die Möglichkeit, unterschiedliche Sichten diskutierbar zu machen. Denn das, was früher Öffentlichkeit genannt wurde, fragmentiert selbst mehr und mehr. Leute unterschiedlicher Weltsichten leben in voneinander entkoppelten Informationswelten, innerhalb derer die jeweils eigene Sicht durchaus als schlüssig oder zumindest selbstkonsistent erscheinen mag. Es gelingt informationstechnisch immer besser, sich einem Abgleich mit grundlegend anderen Meinungen zu entziehen. Hier erweist sich Facebooks individualisierter Nachrichten- und Kommunikationstrom als wirkmächtiges Isolations- und Lenkungswerkzeug. In den USA verengt sich so bereits jetzt für die Mehrheit der Menschen die Nachrichtenwelt auf die Sicht, die Facebook von ihren Vorstellungen und Neigungen hat – geleitet von der Maxime, die Aufmerksamkeit mit beliebigem Inhalt so lange wie möglich zu binden.
Die aktuellen politischen Vorzeichen mit den Ansätzen für eine in weiten Teilen der Welt rechte bis offen faschistische Bewegung, die allzu oft als Rechtspopulismus verharmlost wird, existieren durchaus ohne den digitalen Transformationsprozess. Aber sie existieren nicht unabhängig von ihm. Jenseits der Frage nach dem Ursprung „einer tiefen Verunsicherung“ angesichts der hohen gesellschaftlichen Transformationsgeschwindigkeit, die Raum für simplifizierende rechte Lösungen schafft, ist es die innere Social Media-Funktionsweise, die die Reichweite rechter Propaganda im Netz deutlich erhöht und damit ein politisches Ungleichgewicht verstärkt.
Wenn wir die Transformation des Kapitalismus in Richtung eines digitalen Plattform-Kapitalismus mit neuen nicht-staatlichen Playern samt historisch neuem Ausmaß von Abhängigkeiten und Machtungleichgewichten analysieren und kritisieren, dann lässt sich daraus kein positives Verhältnis zum Staat mit dem Wunsch nach Regulierung ableiten. Das wäre ein reformistischer Kurzschluss. Ähnlich abwegig ist die Unterstellung, die Befürworter*innen des (anonymen) Bargelds stabilisierten den Kapitalismus. Zu glauben, die Bedingungen für eine Überwindung kapitalistischer Verhältnisse ließen sich durch eine von staatlicher Steuerung „entkoppelte“ Crypto-Währung verbessern, ist eine reformistisch-romantisierende Vorstellung von Demokratisierungs-Technokrat*innen.
Uns stellt sich eher folgender Befund dar: Der in vielen gesellschaftlichen Bereichen (zunächst begrüßenswert) schwindende Einfluss staatlicher Institutionen wird eingetauscht gegen eine ultrakapitalistische Dominanz technokratisch-privatwirtschaftlicher Akteure, die sich noch leichter einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess entziehen können. Wir lesen z. B. den aktuellen Umbau des Gesundheitswesens in dieser Weise. Die vermeintliche Konkurrenz staatlicher und nicht-staatlicher Akteure löst sich nicht selten in einer gemeinsamen pragmatischen „Modernisierungs“-Offensive auf.
90 minütiger Vortrag + anschließende Diskussion
Vorschlag Veranstaltungsplakat [5 MB]
1 Herbert Marcuse, „Industrialisierung im Werke Max Webers“, 1964